Frust in Physiotherapien: Mehr Arbeit, wenig lohn

Linda Leuenberger, Journalistin:

 

Heilbäder und warme Wickel: Das war einmal. Die Krankengymnastik, wie die Physiotherapie früher hiess, hat sich in den vergangenen dreissig Jahren zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt, in der Module wie Biomechanik und Neurosensorik gelehrt werden. Wer heute Physiotherapeutin werden will, braucht dafür einen Hochschulabschluss. Physiotherapeuten sind immer besser ausgebildet, und sie geniessen ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Unter anderem darum haben sie immer mehr zu tun: Die Anzahl Patienten steigt stetig, teils müssen Patientinnen wochenlang auf einen Termin warten. Mit der höheren Nachfrage wächst auch die Summe, die die Physiotherapie jährlich umsetzt: Innert zehn Jahren hat sie sich auf 1,3 Milliarden Franken verdoppelt.

 

Tarif ist veraltet – über 30 Jahre kaum Lohnanpassungen

Der Erfolg schlägt sich aber nicht auf die Löhne durch. Der Tarif für eine Physiotherapiesitzung stammt aus den 1990er-Jahren und wurde seither nur einmal leicht angepasst. Derweil sind die Kosten für den Praxisbetrieb gestiegen, und vor allem selbstständige Physiotherapeuten geraten unter Druck. Nun wappnet sich der Berufsverband für neue Tarifverhandlungen. Denn die Physiotherapie sei für das Gesundheitssystem wichtig. Physioswiss-Geschäftsführer Osman Bešić sagt: «Die kostendämpfenden Effekte der Physiotherapie sind enorm.»

 

 

Volle Praxen und doch kaum Geld

Physiotherapeutinnen sind immer besser ausgebildet – ihre Löhne sind aber seit 30 Jahren fast dieselben.

 

Linda Leuenberger, Journalistin:

 

Marco Kamber hat gerade seinen letzten Patienten verabschiedet und sitzt in seinem Behandlungszimmer auf einem Rollhocker. Von draussen wirft die Abendsonne oranges Licht durch die blickdichten Vorhänge. Marco Kamber ist selbstständiger Physiotherapeut in Reigoldswil, einem der äusseren Zipfel des Baselbiets, am hinteren Ende des Frenkentals. Und er liebt seinen Beruf. Mit Menschen zu arbeiten, sie zu behandeln und ihnen zuzuhören, das sei seine Berufung, sagt er, seine Leidenschaft. Doch seine Physiotherapiepraxis steht immer mehr unter Druck.

 

Die Kosten für Mieten, Strom, Lebensunterhalt und Pensionskassen steigen stetig, schreibt Kamber Anfang dieses Jahres an den Berufsverband Physioswiss. Und das bei einem Lohn, der seit 30 Jahren fast derselbe ist. Kamber hält den fünfseitigen Brief in seinen Händen, ein Satz ist unterstrichen: «Ist der Beruf als selbstständiger Physiotherapeut in einer Landpraxis künftig noch attraktiv?»

 

Für den Fortschritt fehlt das Geld

 

Jeden Morgen steht Marco Kamber vor 7 Uhr in seiner Praxis im zweiten Stock eines älteren Hauses; ein Wartezimmer, zwei Behandlungszimmer, ein Trainingsraum. Bevor die ersten Patienten kommen, putzt er die Räume, wäscht die Wäsche und bereitet Behandlungen vor. Am Abend, wenn die letzten gegangen sind, erledigt er zu Hause Telefonate, E-Mails, rechnet ab. Eine Putz- oder Bürokraft liegt finanziell nicht drin. Und auch die Räumlichkeiten könne er sich nur leisten, weil er einen grosszügigen Vermieter habe.

 

Die Physiotherapeuten in der Schweiz können ihre Patientinnen und Patienten nur auf hausärztliche Verordnung behandeln. Sie rechnen über ein vom Bund abgesegnetes Tarifsystem ab. Wie viel eine Physiotherapeutin verdient, ist von Kanton zu Kanton trotzdem unterschiedlich. Es hängt davon ab, welchen Tarif der Berufsverband Physioswiss mit den Krankenkassenverbänden ausgehandelt hat.

 

Marco Kamber beschäftigt zwei Physiotherapeutinnen, die in tiefen Pensen bei ihm angestellt sind. Eine weitere Anstellung würde seinen finanziellen Spielraum vergrössern, schreibt er im Brief an den Verband. «Aber da findet sich leider niemand.» Dreimal habe er die Stelle ausgeschrieben, mit flexiblen Pensen. Keine einzige Bewerbung. «Und am eigenen Einkommen zusätzliche Abstriche machen, liegt wirklich nicht mehr drin.» Im Durchschnitt verdient eine Physiotherapeutin in der Schweiz knapp 97 Franken pro Stunde. In Zürich sind es 106 Franken. Im Kanton Basel-Landschaft verdient Marco Kamber pro Stunde knappe 99 Franken. Davon geht deutlich mehr als ein Drittel für Versicherungen drauf; Marco Kamber zahlt Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge. Vom Rest zahlt er die Miete, Geräte, Verbrauchsmaterial und Lohn. Er kommt gerade so durch. Doch der Lohn ist nicht seine grösste Sorge. Vielmehr fühle er sich im System «eingequetscht», sagt Kamber. Er könne seinen Betrieb zwar aufrechterhalten, ihn aber nicht weiterentwickeln – etwa um mit der Digitalisierung Schritt zu halten oder attraktiv zu bleiben für potenzielle Bewerberinnen. In seiner Praxis steht kein einziger Computer.

 

Physiotherapie wird immer öfter verschrieben

 

In acht Jahren geht Kamber in Pension. Er befürchtet, bis dahin keine Nachfolge zu finden. Das wäre das Ende seiner Landpraxis und ein Verlust für die Menschen von Reigoldswil. Dabei gäbe es genug zu tun: Marco Kamber führt, wie viele andere Physiotherapeutinnen, eine Warteliste. Volle Praxen und doch kaum Geld – wie passt das zusammen? Die Zahlen zeigen: Immer mehr Hausärztinnen verschreiben ihren Patienten Physiotherapie. Mehr ältere Menschen und mehr Büroberufe, ergo mehr chronische Krankheiten und Gelenkprobleme – so erklärt es sich Osman Bešić, Geschäftsführer des Berufsverbands Physioswiss. Und: Die Physiotherapie hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Mittlerweile ist sie nicht mehr nur «Krankengymnastik», wie sie früher hiess, sondern wird an Hochschulen gelehrt mit Bachelor- und Masterabschluss.

 

Der Tarif für eine Physiotherapiesitzung stammt aber immer noch aus dem Jahr 1996 und wurde 2014 um rund acht Prozent erhöht. Die Kosten für den Praxisbetrieb stiegen hingegen um rund 25 Prozent, kritisiert Physioswiss. Ausserdem sind auch die höheren Anforderungen in der Ausbildung nicht abgebildet. Jüngst verschärfen Inflation und Teuerung das Problem. «Faktisch bedeutet das eine schleichende, aber massive Lohnsenkung», sagt Physio-swiss-Geschäftsführer Bešić.

 

Dabei erfülle die Physiotherapie eine wichtige Funktion im Gesundheitssystem. Sie könne Operationen und längere Spitalaufenthalte vermindern, ebenso die Herausgabe von Schmerzmedikamenten. Bešić: «Die kostendämpfenden Effekte der Physiotherapie sind enorm.»

 

Dazu kommt: Die Physiotherapie geniesst in der Bevölkerung einen sehr guten Ruf. Das zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GFS Bern. Neun von zehn Menschen, die schon einmal in der Physiotherapie waren, haben einen guten Eindruck davon und vertrauen ihren Physiotherapeutinnen.

 

Wie viele Kosten werden andernorts verhindert?

 

Etwas anders schätzt der Krankenkassenverband Santésuisse die Situation ein: Innert zehn Jahren haben sich die Kosten für die Physiotherapie auf jährlich 1,3 Milliarden Franken verdoppelt. Die Physiotherapie habe zwar zu Recht ihren Platz im Gesundheitswesen. Es fehlen aber verlässliche Daten darüber, ob und wie viele Kosten die Physiotherapie andernorts im Gesundheitswesen verhindern kann. Und die Tarifverhandlungen sollen basierend auf transparenten Kosten- und Leistungsdaten stattfinden, schreibt Santésuisse. «So will es das Gesetz.»

 

Auf diese Karte will Physio-swiss nun stärker setzen. In den vergangenen zwei Jahren hat der Verband schweizweit Daten erheben lassen, die seine Forderung nach höheren Tarifen stützen sollen. Er will gewappnet in die Verhandlungen treten – und dadurch den Beruf für die Zukunft stärken.

 

Aus dem E-Paper vom Donnerstag 27.04.2023, Luzerner Nachrichten

 

 

 

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